
Aber um wieviel wichtiger und origineller, um wieviel lehrreicher und aufklärender muss
sich uns nicht auch das kleinste Detail des chinesischen „Dings an sieh“ erweisen, da dieses Detail
auf das engste verknüpft ist mit den Fragen, welche die im Werden begriffene Grösse und Wohl-
fahrt Russlands in den unermesslichen Räumen Asiens berühren. Für die Colonialgebiete und
Staaten, die uns früher auf unseren Wege begegneten, konnten wir uns, die Wahrheit zu gestehen,
nicht vom Grund aus interessiren. Einzig das indische Reich in seiner Gesammtausdehnung erweckte,
abgesehen von seiner poetischen Aureole, besondere Aufmerksamkeit, weil e s ,’unwillkürlich
zu der. Betrachtung zwingt;, weswegen man über den ganzen Erdball hin mit dem Uri'4
ruhigen, argwöhnischen britischen Löwen zu rechnen hat.'
In England ist eine auf nichts begründete Ueberzeugüng tief eingewurzelt, dass die
Russen mit Bewusstsein den Indus und Ganges an sich zu bannen suchen, dass die Kosaken-
frauen ihre Kinder damit in Schlaf lullen, dass sie ihnen Märchen von Agra und dem Dekkan
Vorsingen. Das,, was uns ein Lächeln ablockt, bildet für Albion eine drohende Gefahr und g e reicht
uns mehr oder weniger zum VortheiL Zwar haben wir Indien mit seinem Conglomérat
von Stämmen und Religionen, so sympathisch es uns in Seiner bunten Zusammensetzung an-
heimelt, nicht im mindesten ’nöthig, aber die mythische Vorstellung, dass man sich irgend einmaif
von seiten des Nordens der unabwendbaren Möglichkeit eines kriegerischen Marsches über den
Himalaja zu versehen habe, hat für uns den grössten politischen Werth.
Wie gewandt und scharfsinnig sind nicht die. Argumente, mit denen die Diplomaten und
Strategen von jenseits des Kanals zu beweisen trachten, wie unausführbar ein solcher Vorstoss seilff
Die Geschichte verkündet das GegentheiL Die Eroberer selbst sind von der Unvermeidlichkeit eines
solchen Feldzuges überzeugt, und schliesslich bemächtigt sich die Fama in den orientalischen
Bazaren mit Lust dieses Themas, um es mit ihren tausend Zungen zu einer farbenprächtigen Mär
auszugestalten. Um so schlimmer für diejenigen, die Grund haben, so etwas zu befurchten:! f..-
Ganz anders verhalten sieh die Dinge in Bezug auf die Chinesen. Rieses, was Arbeit Und
Geduld anlangt, einzig grosse Volk, das einen Cönfucius hervorbringen konnte und im Reiche
des Tiefsinns einen Denker wie Lao-tse in seinen Reihen zählt, ein Staat, der den Cult des
monarchischen Princips sowie die Verehrung .der vor dem Vaterlande der Unsterblichkeit würdig
erklärten Ahnen zur höchsten Stufe der Vollendung und Einfachheit erhoben hat, dieses Reich
ist nach Maassgabe seiner Verträglichkeit Unser bester und auf Gründ seine’rhconservativen Neigungen
und Eigenschaften der uns zusagendste Nachbar. Der ziemlich patriarchalische Charakter
unserer gegenseitigen Beziehungen und unserer Ansichten über ihn Hegt so klar vor Augen, , dass
wir, die wir doch deutlich motivirte Sympathien und Antipathien zu diesen oder jenen Mächten
hegen, in Wirklichkeit kaum formuliren könnten, wie es sich mit China unsern Gefühlen gegenüber
verhält1
Jeder Russe ist von. vornherein einverstanden mit der Ansicht prschewalskij’s, .'|âs|, 'ÿne
Hand voll Soldaten unsers Heeres hinreichen würde, um das ganze Reich des Bogdychan zu
unteijochen, aber Hand in Hand damit erscheint jedem der Gedanke mehr ,als bedenklich, sich
tiefer in das Leben und Weben der gelben Rasse zu versenken, wobei der yerhältniss-
mässigen Jugend und Energie, der Ideale und des Schaffensdranges Russlands vielleicht ein lang-.
sames Hinsiechen harren würde. Noch unheilvoller aber würde es sein, den Völkern des
Abendlandes die absolute Herrschaft über das augenblicldich hülflose China zu. überlassen.
Wenn dasselbe einmal diesen das.: Recht zuerkenn!; noch mehr ins Innere des Landes vorzudringen,
in seine unermesslich reichen innern Provinzen, um mit den besten Absichten
glänzende Geschäfte zu machen, das Volk zu einem rücksichtslosen Kampf ums Dasein anzuspornen,
kurzum wenn es den Europäern gelingt, die zwischen , den natüriichen Schätzen
ihres Vaterlandes fast versteinerten zahllosen Gemeinwesen des riesigen, in Schlaf versunkenen
Reiches zu neuem Leben aufzurütteln, dann wird dieses Ereigniss folgenschwerer sein, als wenn
wir China zehnmal mit Krieg überziehen oder es chaotisch verwalten würden. Wenn die Europäer
— ich habe besonders die Engländer im Auge — dem politisch kraftlosen, in wirthschaftlicher Beziehung
noch jungen Reiche der Bogdychane mit fester Hand ihre Regierung auferlegten, so wären
sie leicht im stände,/dasselbe in ein zweites Indien, umzuwandeln, das der Ausbeutung einen noch
viel unerschöpflichem Schatz von Hülfsquellen böte als das Land Buddhas und Schiwa’s. Der
gelbgesichtige Eingeborene würde sich. mögHcherweäse für die. Colonisatoren gerade so gut zu
einem trefilichen Soldaten, zu einem Winden Werkzeug ihres kalten Willens machen lassen als
die selbstverleugnenden, ihrer Heeresfahne ergebenen Sipahis. Was in Südasien zum Unheil seiner
Landsleute der seinen Militärinstructoren folgsame „black man“ :geworden ist, das würde.in nicht
minder kurzer Zeit der „yellow man“ werden.
Unsere Hauptaufgabe im „gelben“ Orient sollte sich vorzugsweise darauf beschränken,
uns vor solchen EventuaHtäten zu bewahren, damit nicht später kostbares russisches Blut umsonst
fliessq/ und ungeheuere Summen ausgegebdn werden müssen im Kampfe mit Calamitäten, deren
Abwehr man allzulange hinausgefchoben hatte, die man aber stets, voraussehen und voraus ab-
wenden sollte.
Um in unserm. asiatischen Orient bewusster wirken zu können, sollten wir uns unsere
historische und, sei es endhch gesagt, unsere proyidentielle Lage an den Grenzen der entgegengesetzten
Culturen klar machen. Das Abendland lehrt uns geistige DiscipHn, sonst aber spiegelt
es. sich an der Oberfläche russischen Lebens nur trübe wieder. Ale Seiten desselben, die Tiefen
des Volksthums, sind durchdrungen von dem Hauche echt orientaHscher Anschauungen und
Glaubensüberzeugungen, sind umweht von der Sehnsucht nach neuen, hohem Lebensformen, nach
weiten Menschheitszielen, nach Idealen, die ein. ganz anderes Gepräge haben als die durch den
Materialismus schon ganz 4 und gar heruntergebrachte Weltanschauung der heutigen Durchschnittseuropäer.
Asien hat unzähhgemal Russland mit seinen Horden überschwemmt, mit der
Wucht .seines'Andrangs!; zertrümmert und zusammen mit Persien - und Turkestan, mit Indien
und China in ein fast homogenes Ganze umgewandelt Bis lauf den heutigen 'Tag haben wir
jenseits des Kaspi, des Altai und des Baikal keine deutiich umrissene Grenze, noch wäre eine solche
J f fiuden, eine von der Natur scharf gezogene DemarcationsUnie, hinter welcher das im
eigentiichen Sinne „Unsere" aufhört. Die Nuancen des Ueberganges, insbesondere von den russischen
Besitzungen zu den chinesischen, sind so unfassbar, dass sie jeder Definition spotten. Wir
haben z. B. in unsern europäischen /gentralprovinzen im DtiiiisShen und Uraüschen Heere buddhistische
Kosaken, die mit den. ehemahgen Peking tributpflichtigen Nomaden eines Stammes sind.
Am Manitsch - Strome, zwei Tagereisen von Moskau entfernt, triflt man Lamas, die ganz denselben
Ornat tragen wfijfdie Buddhistenpriester auf den Bergen Tibets. Die nordbuddhistischen
GeistUchen reisen unbehelligt von Kalkutta nach Sibirien .und sogar bis nach Petersburg.
Das grandiose Panorama, das unsere alten orientalischen Grenzprovinzen bieten, entspricht
vollständig demjenigen, zwischen welchem sich Charaktere wie der von den Historikern noch nicht
genügend aufgehellte Dschingischan (aus;, TiansbaikaHen). ausbildeten , Charaktere hervorragender
hjonchp mongoHschen Geblüts, aber rein indischer Weltanschauung, .Charaktere von Helden, in
denen sich die russisch-turanische Kraft der Kosaken verkörperte, die uns den Orient eroberten.
Wer das erhabene Panorama Nordostasier.s kennt, jene Einöde, die noch über maasslose:
Reichthümer Wache hält, muss begreifen, warum der menschhche Geist hier ewig entweder nach
der höchsten Selbstvertiefung trachtete oder sich mit dem Schwung und Drang eines reckenhaften
Abenteurers in die Weife stürzte, fest entschlossen., die unüberwitidüchsten Schranken auf seiner