
Lebensprincip zur Gottheit selbst erhoben wurde, die vom Voíke in einer Reihe mythologischer
Figuren mit menschlicher Gestalt umkleidet worden ist Der durch die Lebenskraft bedingte ewige
Wechsel der Erscheinungen ward in den Augen des Volks zu einer unabänderlichen Naturgewalt
Darum die Einschränkung der Frau auf den engen Kreis und der Fluch, der auf der Kinderlosen
lastet; darum scheidet auch die Witwe aus der Zahl der daseinsberechtigten Wesen aus. Zahllos
strömen die Pilgerinnen an die Ufer des lebenspendenden Ganges* flehend um Kindersegen und
um Genesung der betrübten Seele. Die Inderinnen sind nach dem Zeugniss von Landeskennern
musterhafte Frauen und Mütter, deren Seelenleben sich vornehmlich auf die Religion stützt
Vor der Niederkunft wird die Wöchnerin durch Gesang und Tanz erfreut und mit Gaben
beschenkt. Glücklich wenn sie einen Söhn gebiert Ein Mädchen beraubt den Vater der unmittelbaren
Geschlechtsfolge und somit des für das Seelenheil der Vorfahren nöthigen Beters; die Mutter
erfährt daher seitens der Verwandten bittere Kränkung. Die Wöchnerin bleibt fast ohne alle Pflege,
nur dem Schutze der Göttin Schasti, der Schützerin der Kinder- und Frauenwelt, überlassen.
Diese wird als eine wohlbeleibte gelbe Frau, auf ihrem Lieblingsthiere, der Hauskatze, sitzend,
dargestellt Die launische Patronin wird natürlich mit allen Erfolg verheissenden Mitteln umschmeichelt
Dagegen ist die Göttin Sitia gefürchtet, die die Pocken verbreitet In den Dörfern
gibt es vor dieser fast nie Rettung; höchstens versucht man die Göttin zu täuschen, indem man
die Kleinen in unscheinbare Lumpen hüllt, damit sie an den anscheinend armseligen, des Neides
nicht würdigen Geschöpfen achtlos, vorüberziehe.
Aus der Menge heben sich düstere Gestalten in pelzbesetzten Gewändern ah Es sind Pilger
aus Nepal. Vom Strome aus wird ein Dach in tibetanisch-chinesischem Stile sichtbar; es gehört
zu einem Gebäude, das von einem aus Katmandu, der nepalesischen Hauptstadt, vertriebenen
Herrscher erbaut worden ist
Auch bei den Völkern Innerasiens geniesst Benares den Ruf der Heiligkeit Denn von hieraus
haben der Sage n,ach Mandschuschri und Gautama ihre Lehren persönlich in den Gebirgen des
Nordens verbreitet Schliesslich siegte in Nepal allerdings der Schiwaismus, und die dortigen
Herrscher brüsten sich von altersher, dem Radschputenstamme anzugehören. Da dieser durch
Anhänglichkeit an die Sitten der Ahnen ausgezeichnet ¡ ¡ ¡ ¡ J begreift man, dass heute noch sogar
gebildete Gurkhas (so heissen die kriegerischsten Bewohner Nepals aus der Provinz Gurkhali) nach
einem Besuche in England oder China sich verunreinigt fühlen und sich später auf den vor uns
ansteigenden Ghats zu entsündigen pflegen.
Von den Treppen aus, deren jede ihren Namen und ihre besondere Geschichte hat, entfaltet
sich ein grossartiger Ueberblick über die Stadt der Heiligkeit Im Centrum soll sich der vom
Flusse aus unsichtbare, heiligste Theil des am Ganges gelegenen Stadtviertels von Benares, die
Manikaranika, befinden. Auf der von den Ghats erstiegenen Höhe ist ein Wasserbecken mit Wischnus
Schweiss gefüllt Einst blickte der Gott ins Wasser, da strahlten ihm als Willkomm Tausende von
Sonnen entgegen. Wischnu bat den finstern Brudergott, sieh hier niederzulässen. Dieser nickte
freudig mit fe rn Kopfe, wobei einer seiner Ohrringe ins Wasser fiel; infolge dessen erhielt das
Becken seinen aus „Mani“ (Kleinod) und „Karna“ (Ohr) zusammengesetzten Ñamen. Die Hindus
werfen alles mögliche als Opfer in den Wunderbrunnen, Blumen, Santelholz, Reis, ja sogar Milch
giessen sie hinein. Welch widerliches .fauliges Wasser daraus geschöpft wird, kann man sich
denken. Solcher Brutstätten des Typhus und der „Cholera , gibt es in Benares noch eine grosse
Anzahl. Die frommen Pilger sind-aber nicht'empfindlich und sehen in dem Ausbrechen von
Seuchen nur einen neuen Beweis, wie sehr die sündigen Menschen Strafe durch Siechthum verdienen.
Was wissen sie von Hygiéine, stehen sie doch unter dem Schutze der wahren Weltherrscher,
der Götter!
Auf Schritt und Tritt stösst man auf wunderbare Erinnerungen. Hier ein Fusstapfen
Wischnffs, dort eine Götterfigur in einem sorgsam gefüllt gehaltenen Wasserbecken. Sie soll
die Dürre vom Lande fernhalten. Geschieht dies nicht, so beraubt man den Gott des Wassers
und mahnt ihn so, seine Pflicht zu erfüllen.
Ein trauriges Schauspiel entfaltet sich vor uns: am Ufer sind mit Holz beladene Boote angelegt,
Scheiterhaufen erheben sich da und dort auf dem schwarzgebrannten Boden; ein Leichnam,
mit einem rothen Tuche leicht bedeckt, liegt hart am Ufer. Es ist dies die angeblich fast menschenleere
Stätte der Leichen Verbrennungen. Eine Lohe schlägt auf, der Körper einer Greisin bebt in der
Glut, und krampfhaft ziehen sich in den knisternden Flammen die Gliedmassen in die Höhe. In
der Nähe verrichten Priester ihre Gebete. Ein frommer Sohn verrichtet gewisse Ritualien mit
Hilfe eines Brahmanen für das jenseitige Glück des Vaters. Ein anderer füttert aus dem gleichen
Beweggründe bettelhafte Angehörige der Kaste der gottgleichen Kinder Brahma s. Die Sonne spielt
auf den vergoldeten Kuppeln. Die" Asche, die unter'den feurigen Küssen des Gottes Agni, der
Verkörperung des Feuers, von den Scheiterhaufen gefallen ist, bedeckt den Uferstreifen.
Beim Observatorium fes Maharadscha von Dschaipur endet unsere Ganges-Fahrt. Hier
haben einst die Götter einen der frömmsten Fürsten, den Divodasa, auf die Probe gestellt Sie
verlangten von ihm das Opfer von io Pferden, dessen rituell richtige Ausführung im alten Indien
zu den schwierigsten Aufgaben gehörte. Aber der Maharadscha bestand die Probe und zwang nun
seiñerseíts die durchaus nicht sündlosen Götter, eine Zeit lang der heiligen Stadt fern zu bleiben.
Die Wagen wárten in der Nähe der' Steintreppe. Wieder umgibt uns eine dichte, aus
allen Theilen Asiens bunt zusammengewürfelte.Schar Neugieriger. Dass an einem solchen Orte
die Fäden des Welthandels seit alters zusammenliefen, ist erklärlich. Babylon,, Tyrus, Alexandria,
der griechische und arabische Orient holten sich die berühmten. Goldbrokate, die „Kinkobs“ , von
Benares. Das bei Homer beschriebene kostbare Gewand des Odysseuk glich ganz den fürstlichen
Ornaten im Ramayana . und Mahabharata. Eine reiche Ausstellung herrlicher Stoffe ist in den
Zimmern des Grossfürsten-Thronfolgers veranstaltet; auch viele Götterfiguren äiis Metall und aus
Alabaster, diese theilweise grell bemalt, werden zum Verkauf angeboten. Neben der auf einem Beine
tanzenden Liebesgöttin finden wir Ganescha, den Gott der Weisheit und des Glücks, mit seinem
Elefantenkopfe, den ihm sein erzürnter Vater Schiwa aufgesetzt hatte. Neben kunstvollen Terra-
cottafiguren eines Fakirs oder modernen Sepoys gewahrt man bei den Händlern rothbemaite fratzenhafte
Darstellungen Hanumans, des Heerführers der Aflen auf Ramas Zug nach Ceylon; Tigerklauen
werden als kostbare Talismane angeboten.