
Gedanken kann man nicht sündigen, man hält sich in diesen Augenblicken für ein makelloses,
überirdisches Wesen! Nirgends erblickt man ganz nackte Körper, höchstens ist hie und da der
entblösste Oberkörper eines Mannes zu gewahren, so sehr halten die Hindus auf Bewahrung des
Anstandes. Nach indischen Begriffen ist der heutige Tag frisch, aber die Badenden lassen sich
trotz ihres Fröstelns Zeit mit dem Abtroeknen.
Die endlos scheinende Zeile von Gebäuden am Gangesufer ist eine dicht gedrängte Reihe
hoher, ungemein fester Thürme und Mauern. Die vielen Stockwerke der vom zitternden Sonnenlicht
mit goldigem Scheine umflossenen Fassaden machen einen überwältigenden Eindruck. Jede
Handbreit Land am Ganges gilt dem Hindu kostbarer als die edelsten Metalle und voll göttlichen
Zaubers. Jeder Radscha oder sonstige Reiche will hier bauen, weshalb sich an dem Ufer eine
wahre Tempelstadt erhebt. Nur ein Gebäude muss rechtgläubige Hindus kränken: die Moschee
Aurangzeb’s mit ihren schlanken Minarets, die sich wie ein Zeichen des Sieges des Islam über
indischen Götzendienst in die Höhe schwingen, ein Protest des allzu einseitigen Monotheismus
gegen' den überschwänglichen Pantheismus von Völkern, deren Leben von der Phantasie erfüllt ist
Der fanatische Aurangzeb, der aus Hass gegen die Götterstadt deren Namen in Muhammadabad
umwandelte, war eine hässliche Ausnahme' unter den weisen muhammedanischen Herrschern Nordindiens,
die sich der Vergewaltigung des geistigen Lebens ihrer Unterthanen fast stets enthielten.
Oberflächliche Geschichtschreiber stellen die turanischen Eroberer als rohe Vandalen hin; sehr
mit Unrecht. Denn die Sultane waren klug genug, die Schöpfungen der indischen Baukunst zu
schönen;' höchstens entweihten sie dieselben für die Hindus durch Besprengen mit dem Blute
heiliger Kühe öder wandelten sie in Moscheen um.
Obwol Benares sich dem Islam öfter beugen musste, spielen dessen Bekenner hier doch nur
eine geringe Rolle. Die indischen Glaubenslehren haben sogar das religiöse Leben der dortigen
Muhammedaner so sehr beeinflusst,' dass sie ohne Bedenken ihre Waschungen im Ganges im
Verein mit den Hindus vornehmen. Auch die englischen Soldaten pflegen im Strome zu baden.
Aber ihr Gelächter schändet die Heiligkeit des Ortes, und der Anblick der nackten Körper der
„Weissen“ verletzt die Hindus.
Hurtig aber geräuschlos eilt das Volk, das bunteste Rassengemisch, dem wir noch begegnet
sind, zusammen. Neben halbverhungerten Fakiren die feisten Gesichter selbstgefälliger Brahmanen,
dichte Scharen von Wallfahrern am „feuchten Sehose der Reinheit und Ruhe“ , wo brenzlicher
Geruch von verbrannten Leichen sich bemerkbar macht; auch eine Gruppe von Bajaderen, mit
gewichtigem Geschmeide behängen, ist unter den Badenden. Wer sich Benares als stillen poetischen
Ort vorgestellt hat, in dem sich nur der Glanz des Alterthums wiederspiegelt, wird sieh getäuscht
.sehen. Die Fassaden der unteren Tempel sind schon sehr zerfallen, das Ufer droht an manchen
Stellen im Strom zu versinken, und je näher man der Stadt Schiwa’s kommt, desto mehr vermisst
man den erwarteten äussern Glanz.
Wie Heuschreckenschwärme bewegen sich die Massen am heiligen Strome, am exaltirtesten
benehmen sich die Weiber; sie sind ganz vom Gedanken an ihr bevorstehendes Glück erfüllt.
Möge der geheimnissvolle Strom ihre Herzen erquicken! Welches Lebensloos haben diese Stieftöchter
des Schicksals vor Augen als den steten Kampf mit Elend und socialem Unrecht? Der bedeutendste
Schilderet indischer Sitten, Rudyard Kipling, sagt vom eingeborenen Bauern mit Recht:
His life is a long drawn question
Between a crop and ä crop.
Um wieviel mehr als die Männer sind die indischen Frauen zu bedauern, deren Lebenskreis
sehr enge ist In Indien quillt der Born des Lebens mit solch unversieglieher Kraft, dass das
Orientreise.. II. ,